Die Stadt und das Mädchen ist ein Einzelband von Jiro Taniguchi. Er war einer der bedeutendsten Mangaka und Geschichtenerzähler Japans. Sein Leben und seine Karriere sind Beispiele für die Verschmelzung von persönlicher Lebenserfahrung und künstlerischem Ausdruck. Sein Zeichenstil orientierte sich unter anderem an der europäischen Ligne Claire, dem franko belgischen Comic, während sein Erzählstil tief in der japanischen Kultur und dem Alltag verwurzelt ist. Dieser zeichnet sich durch eine langsame, nachdenkliche Erzählweise aus.
Er arbeitete an einer Vielzahl von Genres. Darunter Abenteuer, Science-Fiction, historische Dramen und Krimis aber seine bekanntesten Werke sind diejenigen, die alltägliche Szenen und menschliche Emotionen einfangen.
Wie viele Mangaka nahm Jiro Taniguchi sich als Privatperson aus der Öffentlichkeit zurück und wollte seine Werke für sich sprechen lassen. Seine Liebe zur Natur und zur Ruhe oder besser gesagt einer Entschleunigung des Alltags spiegelt sich in vielen seiner Werke wider.
Das deutet darauf hin, dass diese Elemente auch in seinem Privatleben eine wichtige Rolle spielten. Über dies hinaus teilte er in seinen Werken auch immer seinen Blick auf die Gesellschaft und zwischenmenschliche Beziehungen. Sowie Alltagsszenen einer Beziehung, den Werdegang einer Mangakas aber auch Kinder Prostitution und Machtmissbrauch. Wobei die Umgebung und Besonderheiten der Regionen immer eine wichtige Rolle spielen.
Darum geht es in Die Stadt und das Mädchen
Spoiler: dieser Text geht über die Handlung des Mangas ins Detail. Trotzdem wird darauf geachtet, dass es danach noch genug Anreiz und Spannung gibt, die Buchreihe zu lesen. Der Text enthält auch unsere subjektiven Eindrücke zum Werk, welche als solche gekennzeichnet sind.
Die Stadt und das Mädchen erzählt die Geschichte von Takeshi Shiga, einem Bergführer, der in einer abgeschiedenen Gegend auf einer Schutzhütte lebt. Er ist ein wortkarger Mann, sein Leben dreht sich fast ausschließlich um die Berge, die Natur und seine Bergsteigerkameraden. Eines Tages erhält er einen Brief von der Frau seines verstorbenen Freundes, der ihn in die Großstadt führt.
In der Stadt erfährt Shiga, dass deren 14-jährigen Tochter, Megumi Sakamato seit Tagen verschwunden ist und keiner weiß, wo sie sein könnte. Shiga bekam von seinem Freund der ebenfalls Bergführer war und bei seiner letzten Tour umkam noch einem Brief, in dem er Shiga das Versprechen abnahm, sich um seine Familie zu kümmern.
Getrieben von diesem Versprechen und der Sorge um das Mädchen macht sich Shiga auf die Suche nach Megumi. Seine Nachforschungen führen ihn durch verschiedene Teilen Tokios und dabei stößt er auf die harten Realitäten des Stadtlebens, Schläger, Männer auf der Suche nach junger Gesellschaft, vernachlässigte Jugendlichen, die sich auf den Straßen von Shibuya herumtreiben und die keiner zu vermissen scheint. Trotzdem bleibt er entschlossen, Megumi zu finden und sie in Sicherheit zu bringen.
Shiga wirkt in der Großstadt wie ein Alien auf einem fremden Planeten. Er kennt die Regeln nicht und gerät durch seine Direktheit oft in Gefahr, ähnlich einem Bergsteiger, der seine Route nicht kennt und der abstürzt, wenn er niemanden hat, der ihn sichert.
Charaktere in Die Stadt und das Mädchen
Megumis Mutter und ihr Schwiegervater: Diese Figuren sind neben der kurz erwähnten Großmutter Megumis verbleibende Familie. Sie bitten Shiga um Hilfe und erinnern ihn dadurch an sein Versprechen an seinen verstorbenen Freund. Bei Megumis Verschwinden sind sie nicht nur panisch, sondern auch völlig hilflos. Dies verdeutlicht die elementare Rolle des Ehemanns und das Ausmaß des Verlustes des Familienoberhaupts in dieser Gesellschaft.
Der Straßenjunge (Geschichtensammler): Als eine Art Reiseführer für Shiga, der sich in der Großstadt nicht zurechtfindet, nutzt er seine Kontakte zu den Mädchen von Shibuya, um Shiga zu helfen. Er ist ein Botschafter, dem die Mädchen vertrauen, und unterstützt Shiga in seiner Suche nach Megumi.
Shigas Bergsteigerkollegen: Diese Gruppe von Menschen zeichnet sich durch absolutes Vertrauen und Kameradschaft aus, die im Ernstfall über Leben und Tod entscheiden können. Obwohl sie äußerlich ernst und grob wirken, haben sie einen weichen Kern und sind äußerst loyal.
Maki Ohara: Megumis Freundin repräsentiert den klassischen vernachlässigten Teenager in ihrer rebellischen Phase. Sie stürzt immer weiter ab und zieht Megumi mit sich in ihren Abwärtsstrudel.
Unsere Meinung zu Die Stadt und das Mädchen
Im Rikoki Lesekreis haben wir unsere positiven und negativen Eindrücke diskutiert. Hier ein paar Ausschnitte davon:
Taniguchi verwendet eine reichhaltige Symbolik in seiner Bildsprache, wobei die Dialoge oft zugunsten der atmosphärischen Darstellungen und des subtextuellen Erzählens in den Hintergrund treten. Die Umgebung und Landschaft sind durch ihren Detailreichtum fast ein eigenständiger Protagonist.
Auch wenn man der Geschichte gut folgen kann, bleiben zum Schluss einige Fragen in der Luft hängen. Welche Folgen etwa den Entführer und seine Komplizen erwarten.
Die rohe, naturbelassene Berglandschaft steht im scharfen Kontrast zum urbanen Dschungel der Großstadt. Taniguchi stellt die Hochhäuser der Stadt als unüberwindbare Gipfel dar, die es zu bezwingen gilt. Shiga, der Protagonist, wirkt in der Großstadt wie ein Alien auf einem fremden Planeten. Er kennt die Regeln nicht und gerät durch seine Direktheit oft in Gefahr, ähnlich einem Bergsteiger, der seine Route nicht kennt und beinahe abstürzt.
Wenn man den klassischen Zeichenstil von Mangas gewohnt ist, können die kantigen Gesichter mit teils ausladenden Details, die für Jiro Taniguchis Mangas typisch sind, sehr unvorteilhaft wirken.
Mir fiel auf, dass immer, wenn es eine Rückblende gab, zuerst eine ruhige Landschaft gezeigt wird. Das machte es leicht diese zu identifizieren.
Ich fand die Charakterentwicklung bei Maki spannend. Vom rebellischen, unverstandenen Teenager, der Shigas Ermittlungen in die Irre führt hin zu ihrer „Öffnung“, dass sie eigentlich gerne einen Erwachsenen um sich hätte, der sich um sie sorgt wie um Megumi.
Die Figuren in die Stadt und das Mädchen sind nicht wie in vielen Mangas heutzutage niedlich oder schön dargestellt, sondern machen gleich einen ernsteren Eindruck.
Ich kannte bereits andere Werke von Jiro Taniguchi, aber die Stadt und das Mädchen hatte einen klaren roten Faden in der Geschichte, was nicht alle seiner Bücher haben, weshalb mir dieses besonders gut gefiel.
Über den Mangaka Jiro Taniguchi
Jiro Taniguchi wurde am 14. August 1947 in der Stadt Tottori in Japan geboren. Über sein Privatleben ist nicht viel bekannt, da er sein Privatleben weitgehend von der Öffentlichkeit fernhielt. Taniguchi begann seine Karriere mit 19 als Manga Assistent für den Mangaka Kyūta Ishikawa deren Leserschaft aber auf Erwachsene ausgelegt war. Anfang der Siebziger zog er nach Tokio und veröffentlicht 1972 seinen ersten Manga Kareta Heya.
Man weiß, dass er in den 1970er Jahren geheiratete hat, doch Details über seine Familie wurden selten publik gemacht. Aus seinen Interviews lässt sich schließen, dass er ein harmonisches und zurückgezogenes Leben führte, was ihm die Möglichkeit gab, sich ganz auf seine Kunst zu konzentrieren. Seine Heimatstadt Tottori, bekannt für ihre schöne Natur und Sanddünen, könnte auch seine tiefe Verbindung zur Natur und seine ruhigen, Erzählstile beeinflusst haben.
Taniguchis Liebe zur Ruhe und Entschleunigung spiegelt sich unter anderem im bemerkenswerten Werk Der spazierende Mann (1992) wider. Das Buch handelt von einem Mann, der durch verschiedene Stadtlandschaften spaziert und die einfachen Freuden des Lebens genießt. Ein Muster, dass man auch in mehreren japanischen Filmen und Serien beobachten kann. Zum Beispiel in der der Netflix Serie Samurai Gourmet oder dem Film Tompopo.
Diese Geschichte zeigt Taniguchis Fähigkeit, die Schönheit im Alltäglichen zu erkennen und darzustellen. Etwas dass in der Ästhetik der japanischen Kunstgeschichte und dem Kunsthandwerk oft zu beobachten ist.
Er starb am 11. Februar 2017 im Alter von 69 Jahren.
Interviews mit Jiro Taniguchi: über Autobiografisches, seine Arbeitsweisen und seine Eindrücke über die Manga-Branche
In den Interviews betont Taniguchi, dass seine Geschichten oft aus autobiografischen Erlebnissen gespeist sind, jedoch mit fiktiven Elementen angereichert werden. Werke wie Ein Zoo im Winter basieren teilweise auf seinen Erfahrungen als Manga Assistent. Dabei wählt er oft Orte, die er gut kennt oder die bedeutenden Ereignisse in seinem Leben darstellen.
Taniguchi arbeitete sowohl allein als auch in Zusammenarbeit mit anderen Autoren. Er bevorzugte die Zusammenarbeit, da sie ihm neue Perspektiven eröffnete und ihn zu unvorhergesehenen kreativen Entwicklungen zwang. Bei solchen Projekten, wie Der Gourmet, sammelte er Szenarien, die er visuell umsetzte, ohne konkrete Vorgaben der Erzähler zu erhalten. Wie der Duft einer für eine Bahnstation typischen Bento Box die man nur an dieser Station erwerben kann.
Er äußerte sich auch zu den Veränderungen in der Manga-Industrie und der Vielfalt der neuen Autoren. Er bemerkte, dass junge Mangaka zunehmend innovativer werden, obwohl sie oft dem Mainstream folgen, um kommerziellen Erfolg zu erzielen. Taniguchi selbst sah sich als Ausnahme in der Branche, da seine Mangas oft introspektiv bzw. auf Selbstbeobachtung beruhend und weniger leicht verdaulich waren.
Preise und Auszeichnungen von Jiro Taniguchi
Seine Werke wurden in viele Sprachen übersetzt und fanden weltweit Anerkennung. Er wurde mehrfach ausgezeichnet:
- 1992 Shōgakukan-Manga-Preis
- 2003 Alph’Art, (Als erster Japaner)
- 2007 zum Comic des Jahres in Deutschland (zum ersten Mal hat ein Manga gewonnen)
- 2008 Max-und-Moritz-Preis
- 2016 Ehrenausstellung vom Comic-Salon Erlangen
Auszug der Werkliste
- 1972 Kareta Heya
- 1992 Der spazierende Mann
- 1997 Ikaru
- 1998 Vertraute Fremde
- 2000 Gipfel der Götter
- 2008 Ein Zoo im Winter,
- 2008 Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß
- 2009 Die Stadt und das Mädchen